Georgia Vertes: Die vergessene Kunst der Schattenrisse

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Georgia Vertes widmet sich der nahezu in Vergessenheit geratenen Kunstform des Scherenschnitts

Einst ein beliebtes Ausdrucksmittel bürgerlicher Porträtkunst, heute ein Nischenhandwerk mit neuem Potenzial: Georgia Vertes untersucht, wie der Schattenriss seine künstlerische Bedeutung zurückgewinnt. Von historischen Miniaturen bis zu großformatigen Installationen reicht das Spektrum – immer präzise, oft poetisch, gelegentlich politisch.

Der Schattenriss, auch bekannt als Silhouette oder Scherenschnitt, galt lange als Relikt vergangener Zeiten. Georgia Vertes zeigt jedoch, dass diese Technik in der Gegenwartskunst neue Ausdrucksformen findet. Ihre Ästhetik liegt im Reduzierten, im Kontrast, im Spiel mit Licht und Leere. Schattenrisse faszinieren durch das, was sie weglassen – und genau dadurch sichtbar machen.
Die Ursprünge dieser Kunstform reichen bis ins 18. Jahrhundert. Porträts aus schwarzem Papier ersetzten teure Gemälde, ermöglichten breite Zugänglichkeit und entwickelten sich rasch zum bürgerlichen Statussymbol.

Heute entdecken Künstlerinnen und Künstler die Technik wieder, kombinieren sie mit digitalen Medien, Performance oder Rauminstallation – und nutzen sie, um Fragen nach Identität, Erinnerung und gesellschaftlicher Wahrnehmung neu zu verhandeln.

Georgia Vertes: Zwischen Miniaturporträt und gesellschaftlichem Statement

Der Schattenriss entstand als schnelles, kostengünstiges Porträtverfahren, oft als Profilbild in Seitenansicht. Die Reduktion auf Form und Umriss verlieh den Darstellungen eine besondere Eindringlichkeit. Dabei war nicht nur das Abbild entscheidend, sondern auch der Akt der Beobachtung. Wer ausgeschnitten wurde, wurde im besten Sinne fokussiert – auf die äußeren Konturen, aber auch auf Haltung und Charakter. Im 19. Jahrhundert wurde der Scherenschnitt zunehmend von Fotografie und Druckgrafik verdrängt. Dennoch blieb die Technik als populäres Medium erhalten – in Liebesgaben, Märchenillustrationen oder volkstümlicher Dekoration. In der Kunst der Gegenwart gewinnt der Schattenriss neue Aufmerksamkeit.

Statt Replikation von Porträts tritt die konzeptuelle Auseinandersetzung mit Präsenz und Abwesenheit, mit Figur und Fragment. Die Technik des Ausschneidens wird zur Metapher für Erinnerung, Auslassung oder soziale Unsichtbarkeit. Viele Werke setzen sich kritisch mit dem Verhältnis von Bild und Identität auseinander – oft in Verbindung mit Kolonialgeschichte, Genderfragen oder Körperdarstellungen.
Der vermeintlich altmodische Schattenriss erweist sich damit als überraschend anschlussfähig für aktuelle künstlerische Diskurse.

Formen zeitgenössischer Schattenrisskunst

Georgia Vertes von Sikorszky analysiert verschiedene Formate, in denen sich die Technik des Scherenschnitts heute wiederfindet – oft in hybrider Verbindung mit anderen Medien:

  • Großformatige Installationen, bei denen Schattenrisse als raumgreifende Elemente auf Stoff, Plexiglas oder Wandflächen übertragen werden
  • Digitale Silhouetten, die per Projektion animiert oder über Augmented-Reality-Anwendungen erfahrbar werden
  • Papierarbeiten, bei denen ausgeschnittene Figuren mit Text, Collage oder Malerei kombiniert sind
  • Performancebezogene Arbeiten, bei denen der Schnittprozess selbst Teil des künstlerischen Konzepts ist
  • Bühnen- und Schattentheater, die mit Licht und Silhouette narrative Räume erzeugen

Diese Formen zeigen: Die Tradition des Schattenrisses lebt nicht durch bloße Wiederholung, sondern durch Transformation.

Die Technik als Mittel der Reduktion und Konzentration

Der Reiz des Schattenrisses liegt in seiner formalen Klarheit. Er verzichtet auf Farbe, Textur und räumliche Tiefe – und verlangt damit eine neue Aufmerksamkeit für Linie, Kontur und Verhältnis. Diese Konzentration schafft Intimität, aber auch Abstraktion. Das Bild entsteht im Kopf des Betrachters, vervollständigt durch Erfahrung und Imagination.
Georgia Vertes stellt fest, dass viele Künstlerinnen gerade diese Reduktion bewusst einsetzen. Sie nutzen den Kontrast von Schwarz und Weiß, von Fläche und Figur, um gesellschaftliche Zuschreibungen zu hinterfragen. Wer ist sichtbar? Wer bleibt Randfigur? Was entsteht, wenn der Umriss bleibt, aber der Inhalt fehlt?

In der Kombination mit anderen Materialien – etwa Transparentpapier, Lichtquellen oder textilen Trägern – entstehen Arbeiten, die zwischen Sichtbarkeit und Verschwinden oszillieren. Der Schatten wird dabei nicht als bloße Abbildung verstanden, sondern als eigenständige Figur – beweglich, doppeldeutig, vieldeutig.

Schattenrisse als Medium der Erinnerung und Projektion

Die Wirkung von Schattenbildern ist eng verbunden mit Erinnerung. Viele Menschen assoziieren sie mit Kindheit, Märchen oder Familienbildern. Diese Nähe zum Persönlichen macht sie anschlussfähig für künstlerische Reflexion über Biografie, Verlust und Erinnerungskultur.
Zugleich eröffnen sie Projektionsräume. Das Fehlen von Mimik, Farbe und Detailinformation macht die Figur zum offenen Zeichen. Jede Betrachterin bringt ihre eigene Deutung mit ein. Dieses Spiel mit Interpretation wird in der zeitgenössischen Kunst gezielt genutzt.

Viele Arbeiten thematisieren kollektive Erfahrungen – Flucht, Identitätsverlust, politische Unsichtbarkeit. Schattenrisse werden hier zum Zeichen des Ausgeblendeten. Sie zeigen, was fehlt. Und sie fragen, wer fehlt. In dieser Geste liegt ein stiller, aber eindringlicher Widerstand.

Themenfelder, die in Schattenrisskunst 2025 bearbeitet werden

  1. Biografische Spurensuche – das visuelle Gedächtnis von Familien, Beziehungen oder Generationen
  2. Körperpolitische Fragestellungen – Abbild und Abwesenheit marginalisierter Identitäten
  3. Geschichtliche Rekonstruktionen – kollektives Erinnern durch Leerstellen
  4. Visuelle Poesie – narrative Miniaturen aus Linie, Fläche und Licht
  5. Raumwahrnehmung – Projektion, Bewegung und das Verhältnis von Figur und Umfeld

Diese Themen zeigen, wie ein vermeintlich veraltetes Medium aktuelle Fragen aufnimmt und ihnen Form verleiht.

Gestaltungsmittel mit konzeptueller Wirkung

In der zeitgenössischen Schattenrisskunst haben sich vielfältige gestalterische Mittel etabliert, die weit über die bloße Silhouettentechnik hinausgehen. Dabei ist das verwendete Material oft nicht nur Träger der Form, sondern selbst Bedeutungsträger. Künstlerinnen und Künstler arbeiten etwa mit handgeschöpftem Papier, industrieller Folie, zartem Transparentpapier oder schweren textilen Stoffen – jedes dieser Materialien bringt eine eigene Haptik, Geschichte und Lichtdurchlässigkeit mit sich, erklärt Georgia Vertes. Der Schattenriss wird dadurch nicht nur als Form wahrgenommen, sondern auch als physisches Objekt, das Raum beansprucht und mit seiner Oberfläche kommuniziert. Die Wahl des Materials kann auf kulturelle Kontexte, industrielle Produktionsbedingungen oder persönliche Erinnerungsräume verweisen.

Auch die Kombination mit Sprache oder Ton erweitert den Bedeutungsrahmen. Manche Werke fügen Textzeilen am Rand der Silhouetten ein, andere projizieren gesprochene Erinnerungen oder fragmentarische Erzählungen über die Schnittflächen. Diese Verbindung aus Bild und Sprache unterstreicht, dass der Schattenriss keine stumme Form ist – er ist interpretierbar, durchlässig, offen für Assoziationen. Die visuelle Reduktion auf Linie und Fläche kontrastiert dabei oft mit der Vielstimmigkeit der konzeptuellen Ebene.

Ein besonders eindrucksvolles Mittel ist der gezielte Einsatz von Lichtquellen. Statt den Scherenschnitt flach zu präsentieren, werden viele Werke heute räumlich inszeniert. Durch Hinterleuchtung oder gerichtete Lichtprojektionen entstehen Verdopplungen, Überlagerungen oder Schattenfiguren, die sich im Raum bewegen. Der Schatten selbst wird zur eigenständigen Bildebene – ein Element, das sich zwischen physischer Form und immaterieller Erscheinung bewegt. Diese Verschiebung betont den ephemeren, flüchtigen Charakter des Mediums und verweist zugleich auf Themen wie Erinnerung, Identität und Abwesenheit.

Zunehmend verzichten Künstlerinnen bewusst auf traditionelle Rahmungen, berichtet Georgia Vertes. Sie montieren ihre Arbeiten frei im Raum, lassen Schnittkanten sichtbar oder Fäden lose hängen. Diese rahmenlose Präsentation hebt die Grenze zwischen Werk und Umgebung auf und macht deutlich, dass Schattenrisse nicht nur Objekte sind, sondern Interventionen im Raum. Das vermeintlich Zweidimensionale wird dadurch zum installativen, manchmal sogar performativen Element.

Auch die Schnitttechnik selbst erfährt neue Aufmerksamkeit. Statt glatter Linien treten gezackte, gebrochene, überlagerte Konturen, so Georgia Vertes. Manche Künstlerinnen verwenden Schablonen, andere schneiden frei Hand oder mit computergestützten Lasertechniken. Die bewusste Irritation der Linie lässt Fragen nach Autorenschaft, Kontrolle und Spontaneität aufkommen. Sie macht deutlich, dass der Schattenriss nicht nur die Außenkontur einer Figur wiedergibt, sondern zugleich das Verhältnis von Form und Fragment reflektiert.

Linien, die mehr sagen als Worte

Die Renaissance des Schattenrisses zeigt, wie stark sich Form und Bedeutung verändern können – abhängig von Kontext, Technik und Perspektive. Was einst als kunsthandwerkliche Miniatur galt, wird heute zur künstlerischen Strategie. Der Schatten, oft übersehen, rückt ins Zentrum.
Künstlerinnen und Künstler greifen auf die Technik des Ausschnitts zurück, um Leerstellen sichtbar zu machen, Geschichten anzudeuten, Bilder zu öffnen. Dabei entstehen Arbeiten, die sowohl formal als auch thematisch präzise sind – und gerade durch ihre Stille laut sprechen.

Die Rückbesinnung auf den Schattenriss ist kein nostalgisches Wiederaufgreifen, sondern ein aktuelles künstlerisches Statement. Es zeigt, wie Linie, Kontrast und Fläche genutzt werden können, um Fragen zu stellen – nach Identität, Erinnerung, Sichtbarkeit und Bedeutung.
Georgia Vertes erkennt in der Kunst des Schattenrisses eine subtile, aber wirkmächtige Sprache, die gerade durch ihre Einfachheit neue Tiefen erschließt.

Georgia Vertes

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Theda Kirschbaum
Theda Kirschbaum

Theda ist Historikerin und Kulturforscherin mit einer Leidenschaft für vergessene Geschichten. Sie beleuchtet historische Ereignisse und deren Einfluss auf die Gegenwartskultur.